Freitag, 3. Dezember 2010

Virginia und das Jugendamt

3. Dezember 2010
Es gibt das Jugendamt von Münster

Die achtjährige Virginia aus New York hat 1897 an die Zeitung "SUN" diesen Brief geschrieben:

"Ich bin acht Jahre alt. Einige von meinen Freunde sagen, es gibt keinen Weihnachtsmann. Papa sagt, was in der SUN steht, ist immer wahr. Bitte sagen Sie mir - gibt es einen Weihnachtsmann?

Virginia O´Hanlon"

Die Antwort an die kleine Virginia schrieb der beste Kolumnist des Blattes, sie begann so: "Liebe Virginia, deine kleinen Freunde haben nicht Recht. Sie glauben nur, was sie sehen; sie glauben, dass es nicht geben kann, was sie mit ihrem kleinen Geist nicht erfassen können."

Diese kleine Virginia und dieser Kolumnist sind schon lange tot. Doch dieser Brief gehört zur Weihnachtszeit wie ein Tannenbaum. Ich habe im Namen dieser kleinen Virginia schon Briefe an die Bundeskanzlerin, an die Bundesfamilienministerin und an Alice Schwarzer geschrieben. Heute tue ich es wieder:

"Ich bin acht Jahre alt. Ich habe eine kleine Freundin, die ist 17 Monate alt und ich habe einen kleinen Freund, der ist drei Jahre alt. Seit einem halben Jahr dürfen sie sich nicht mehr sehen. Mein Vater sagt, das liegt am Jugendamt von Münster. Deshalb frage ich Sie: Gibt es das Jugendamt von Münster?"

"Liebe Virginia,

dein Vater hat Recht. Es gibt das Jugendamt von Münster, weil irgend jemand immer ein besserer Vater sein muss als dein Vater. Das ist nicht immer leicht und wäre noch schwerer, wenn man Geschwister nicht trennen würde. Würde dieses Jugendamt Kinder nicht trennen, wäre in der Behörde immer noch ein kleiner Flackerrest von Erinnerungen an die eigene Kindheit. Dieser Flackerrest würde die so wichtige Arbeit des Jugendamtes behindern.

Unser Menschengeist ist klein, der Behördengeist des Jugendamtes von Münster dagegen ist so groß, dass er sich nicht einmal im Weltall verliert. Du kannst die Funksprüche der Lebewesen, die es auf anderen Planeten gibt, nicht hören. Aber es gibt sie. Wenn erst die notwendigen Raumschiffe gebaut und alle Kinder dieser Außerirdischen herausgeputzt sind, werden sie sofort zum Jugendamt von Münster starten, denn wo könnten sie es besser haben als in der Hafenstraße?

Ja, Virginia, in Münster gibt es eine Hafenstraße. Es gibt sie so gewiss, wie es Paragraphen gibt, die man im Jugendamt von Münster nicht kennt. Sie müssen dort auch nicht bekannt sein, denn nichts soll die Arbeit des Jugendamtes von Münster in die Dunkelheit von Gesetzen tauchen.

Das Licht, das dieses Jugendamt ausstrahlt, müsste sonst verlöschen - und deine beiden kleinen Freunde würden sich wiedersehen. Und schon würden deine beiden kleinen Freunde und du den Märchen glauben. Gewiss könntest du deinen Vater bitten, er solle am Heiligen Abend Briefe schreiben. Doch keiner würde sie zur Kenntnis nehmen. Was würde das beweisen?

Kein Mensch erkennt die wunderbare Arbeit des Jugendamtes von Münster einfach so. Das beweist gar nichts. Die wichtigsten Protokollnotizen und die meisten Akten bleiben meistens unsichtbar. Die Verfahrenspflegerin, die es auch noch gibt, zum Beispiel. Wenn sie an ihrer Schreibmaschine sitzt und sogar einen Patenonkel von deinen beiden kleinen Freunden fernhalten will. Trotzdem gibt es diese Verfahrenspflegerin.

All die Schriftstücke zu denken - geschweige denn, sie zu verstehen - das vermag nicht der Klügste auf der Welt. Nur das Jugendamt von Münster.

Du kannst im Flur dieses Jugendamtes auf und ab gehen, du kannst die Aktenschränke aufbrechen. Du wirst einige Blätter finden, nichts weiter. Warum? Weil es einen Schleier gibt, den nicht einmal alle Gewalt auf der Erde zerreißen kann. Nur das Jugendamt und die Verfahrenspflegerin können ihn lüften. ´Ist das denn auch wahr?´ kannst du fragen. Virginia, nichts auf der Welt ist wahrer und beständiger.

Das Jugendamt von Münster lebt, und ewig wird es leben. Sogar in zehn Mal zehntausend Jahren wird es noch da sein, um Kinder, wie deine kleinen Freunde, zu trennen.

Besuch mal die Hafenstraße, Virginia!"

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